Textspur

Borilla 1

Tom sah sich um, als er die Tür hinter sich schloss, um das Gitter herunterzulassen. Wie er es jeden Tag seit etwa zehn Jahren tat. Doch heute war es anders. Es war der letzte Tag. Ein Hauch von Abschied lag in der Luft und wehte in sein Gesicht. Tom blinzelte, um seine Augen zu schützen. Das war es nun, dachte er. In diesem Moment würde sein Restaurant schließen und mit diesem eine Schublade voller Träume. Hätte er es nicht kommen sehen müssen? Das nahende Ende? Bei den ganzen Problemen, die sich wie Metastasen ausgebreitet und am Ende in seinem Kopf gestreut hatten? Er seufzte, während er das Gitter hinter sich verriegelte. Wie sollte es nun weiter gehen? Sein ganzes Erspartes war wie eine Infusion ins Borilla geflossen. Doch am Ende half auch seine letzte Geldspende nicht. Die Verbindlichkeiten wurden immer höher, der Druck, der auf seinem Brustkorb drückte, immer größer. Es schien eine riesige Sanduhr gegen ihn zu rieseln. Heute war nun alles zu Grunde gesackt. Tom wich einen Schritt zurück und betrachtete das gelbe Firmenschild über ihm. In großen grünen Lettern stand dort „Restaurant und Bar Borilla“ geschrieben. An die Tür hatte er notdürftig ein Schild geklebt. „Geschlossen wegen Firmenaufgabe“. Tom schluchzte. Eine schwere Kugel rollte seinen Hals hinunter, um alles in seinem Magen anzustoßen. Die Schritte zu seinem Auto verkamen zu einem Trauermarsch. Mit jedem Schritt weg, verblassten die Erinnerungen ein wenig mehr. Was kurz vorher noch allgegenwärtig war, verkam zu etwas Unwirklichen. Die ganzen Abende, an denen er hier servierte und an denen er trotz Arbeit viel Spaß hatte, schienen kilometerweit zurückzuliegen, obwohl ihn nur augenscheinlich wenige Monate trennten.

Nach zwei Minuten hatte er endlich sein Auto erreicht, welches sich im Schatten einer Laterne auf Lauer geparkt hatte. Hastig kramte er nach dem Autoschlüssel und setzte sich in seinen Wagen. Seine Gedanken waren auf Autopilot gestellt. Bevor er nachdenken konnte, war schon der Zündschlüssel verankert und der Gang eingelegt. Das Radio begann zu singen. Tom atmete tief durch. Das Schlagzeug hämmerte barsch gegen seinen Kopf. Das Auto vibrierte im Einklang mit den wummernden Bässen, die an allen Seiten an die Scheibe klopften. Er wippte im Takt, eh sich seine Füße wie ein Klettverschluss am Gaspedal festhafteten. Die Musik wurde immer lauter, seine Gedanken immer ausgefranster. Dann schepperte es dumpf. Das treibende Soundinferno wich einer heulenden Sirene, die von außen ans Auto kratzte. Seine Ausgelassenheit fiel zu Boden. Er zuckte zusammen. Tom hoffte, dass die Sirenen verstummen würden, wenn er das Radio ausstellen würde. Insgeheim wusste er, dass dem nicht so sein würde. Die Geräusche waren real, kein Produkt seines Soundsystems. Es war etwas passiert. Und wenn er nicht aufpasste, wäre er vielleicht als nächster an der Reihe. War Tom gerade noch sanft im Fahrersitz gebettet, verkrampfte er jetzt. Als die Musik immer leiser und die Sirenen immer lauter wurden, nahm sein Herzschlag den Platz des verstummenden Basses ein. Seine Gedanken rasten. Lange Schatten streiften seinen Blick in den Rückspiegel. Sein Atmen stockte. Bleiben oder fahren?

Fortsetzung folgt