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Gesichtsverlust

Er riss sich sein Gesicht vom Kopf und zerknüllte es in seiner Faust. Das, was er jeden Tag im Spiegel sah, gehörte nicht zu ihm – nicht mehr. Heute war der Moment gekommen, es auch anderen zu zeigen. Er wollte keine Verbindung mehr zwischen sich und diesem Es ziehen. Diesem Unbekannten, der letztes Jahr sein Gesicht gestohlen und dunkle Dinge getan hatte. Dinge, die bisher nur im Schatten lauerten, wie Schemen in seinen Gedanken.

Doch wie lange konnte er seinem Blick noch ausweichen? Wie lange hätte er noch die Kraft, sich selbst zu widerstehen?

Er schaltete die Nachttischlampe aus und versank in den schwarzen Decken, die er vor sich ausgebreitet hatte. Seine Arme verschränkte er schützend vor den Augen, die wie leblose Knöpfe aus seinem Gesicht hingen. Er wollte schreien, doch hatte er Angst, etwas anzulocken.

Etwas schlich in der Dunkelheit umher.

Wenn er sich nicht ruhig verhielt, würde es über ihn herfallen und seinen Kadaver fressen. Nichts würde von ihm übrig bleiben. Das wusste er. Es war hungrig.

Zitternd klammerte er sich an die Decke. Früher, als er klein war, hatte sie ihn immer geschützt. Vor Monstern unter dem Bett, vor Geistern, die durch die Wände seines Kinderzimmers schwebten. Manchmal war sie auch ein Superschutzschild gegen das Geschrei seiner Eltern. Sein Bett war ein sicherer Hafen, egal, was draußen passierte. Denn sobald er sich hineinlegte und die Augen schloss, war es, als würde eine Tür hinter ihm zuschlagen. Eine unüberwindbare Mauer zwischen ihm und der grauen, kalten Welt.

Doch heute half ihm die Tür nicht.

Denn die Gefahr war nicht draußen.

Sie war in ihm.

Sie versteckte sich auf Hooks Schatzinsel, wohin er sich wie früher geflüchtet hatte, um Abenteuer mit seinen Freunden zu erleben. Doch diesmal war es kein Spiel.

Der Wind heulte. Die Wellen bäumten sich auf, angetrieben von der brausenden Luft, peitschten gegen die Klippen. Die Jolly Roger war den Gewalten schutzlos ausgeliefert. Trotzte sie sonst jedem Sturm, wurde sie nun unkontrolliert gegen die Steine geschmettert, bis sie schließlich in ihre Einzelteile zerbrach.

Er stand auf der Klippe und sah zu. Sah, wie die Piraten um Hilfe schrien, sah, wie das Meer sie verschluckte.

Wellen barsten an den Felsen, tünchten sie rot. Seine Schuhe saugten sich voll.

Seine Miene verfinsterte sich.

Hätte er sie retten können?

Sie hätten ihn gerettet. In jeder Geschichte zuvor.

Aber was hätte er tun sollen? Sie waren ohnehin verloren. Der Sturm war zu stark. Und er war zu schwach.

Gut schwimmen konnte er außerdem nicht.

Hätte er? Hätte er nicht?

Die Gedanken kamen schnell und wichen wieder zurück – nur um im nächsten Moment mit voller Wucht erneut gegen seinen Kopf zu schlagen.

War er schuldig?

Er geriet ins Wanken.

Sein fester Stand verflüchtigte sich.

War er ein—

Eh er die Frage zu Ende dachte, verlor er den Halt.

Er stürzte.

Wie ein Hagelkorn, frei im Fall.

Ins Meer.

Ins Rot.

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