Textspur

Vollbremsung

Eine Woche war vergangen. Eine unruhige Woche. Es war viel passiert in dieser Zeit. Schöne Dinge, aber auch umso mehr unschöne Dinge. Eigentlich haupt-sächlich unschöne Dinge. Wäre das Leben eine Waage würde es gewiss schief stehen und mich beziehungsweise uns nach unten drücken. Es wäre erdrückend. Zum Glück ist es das nicht. Wie sollte ich sonst mein Leben so schnell wieder ins Gleichgewicht bringen? Ich wäre echt überfragt. Nun gut. Vor nicht allzu langer Zeit war alles in Ordnung. Mein neuer Job war eine Wohltat. Meine Freundin eine Wonne. Und unsere neue Wohnung ein Traum. Es lief alles zu perfekt, wenn man es genau nimmt. Irgendwo musste doch ein Haken sein. Es stimmte einfach alles ausnahmslos. Wenn man die Zeit rückblickend betrachtet, war ich einfach blind. Wie konnte es passieren, dass ich nun vor den Scherben meiner Existenz stehe und nicht weiß, wie es weiter gehen soll. Wie konnte ich so erblinden? Obwohl mir Anfang des Monats noch glasklare Sicht bescheinigt wurde. Nicht nur von einem Augenarzt. Auch mein Chef lobte mich für meinen Einsatz und versprach mir eine baldige Extraentlohnung für mein Engagement. Von meiner Freundin brauche ich gar nicht erzählen. Wir schwebten auf Wolke 7 schwerelos durch unsere neue Wohnung. Nichts schien uns zu stoppen. Nichts schien mich auf meiner Erfolgsspur zu bremsen.

So dachte ich bis Montag. Als ein bisher unbekanntes Geschwindigkeitsbegrenzungsschild in meinem Leben aufgestellt wurde. Vorher galt nur der Grundsatz. Schneller, weiter und besser. Und nun sollte ich abbremsen. Kürzer treten. Alles langsamer angehen. Meine Firma wurde neuorganisiert und mir wurde die Kündigung eingereicht. Bald werde ich arbeitslos sein. Ich, der noch vor kurzem, eigentlich bis Ende der davorliegenden Woche, die Sternschnuppe in meiner Firma war. Und würde es nach meinen Chef gehen, würde mein Weg weiter nach oben führen und ich würde weiter strahlen. Doch leider hat mein Chef nicht wirklich viel zu sagen. Zumindest, wenn es um die grundsätzliche Ausrichtung der Firma geht, muss mein Chef sich den Vorgaben der Muttergesellschaft beugen und die lautet Dezentralisierung. Ich will gar nicht näher darauf eingehen – nur auf das Ergebnis der „Umstrukturierung der Arbeitsorganisation“: Kündigung. Ich werde nicht mehr gebraucht. Aber das ist leider nicht alles. Es wäre an und für sich schon schlimm genug, aber das Leben würde ja weiter gehen.

Vielleicht nicht in Höchstgeschwindigkeit wie bisher, aber es würde. Seitdem ich von der bevorstehenden Kündigung weiß und es meiner Freundin berichtet habe, streiten wir uns nur noch. Sie kann nicht verstehen, dass mein Selbstbewusstsein zerschmettert wurde und die Kündigung einen gehörigen Angriff auf mein Ego darstellt. Ich soll mich nicht so haben. Ich werde bald schon was Neues finden. Vielleicht sogar etwas Besseres. Sie hat leicht reden. Sie hat ihre Stelle noch und kann weiter rasen. Ich jedoch wurde gebremst und wenn es so weiter geht mit uns, gleicht der Ablauf meines Lebens einer Vollbremsung. Es scheint nicht mehr weiter zu gehen. Der Tag auf der Arbeit plätschert so vor sich hin, seitdem ich davon weiß und der Tag zu Hause scheint auch nicht zu Ende zu gehen. Ich freue mich so sehr auf mein Bett, um weiter vom bisherigen – perfekten – Leben zu träumen. Verdammt. Ich will sie doch nicht auch noch verlieren. Sie ist so wunderbar. Ich liebe sie. Wenn es jedoch so weitergeht, wird auch mein Privatleben neu organisiert und das heißt „Trennung im Einvernehmen“. Das will ich einfach nicht, aber ich sehe es kommen. Eine Anweisung von ganz oben. Nicht aus der Zentrale in Los Angeles, sondern vom Schicksal, dass die Rendite steigern und neue Wege gehen will. Ob eine Kündigung nicht schon genug wäre. Aber dies scheint niemanden zu interessieren, erst recht nicht meine Freundin und meinen besten Freund sowieso nicht. Er hat kaum noch Zeit, seitdem er befördert wurde. Auch er meint, dass ich gelassen bleiben soll. „Easy Going“. Wie ich das hasse. Ich will nicht gehen. Nicht, nachdem ich zuvor immer schnell durchs Leben gefahren bin. Ach egal. Wie soll ich nur gelassen bleiben können?

Mein neues Auto bezahlt sich nicht von alleine und auch die geplante Reise muss storniert werden. Aber vielleicht hat er auf eine Art Recht. Wenn man zu schnell durch die Gegend fährt, verpasst man das Wesentliche. Er könne mir das Auto abkaufen. Dann würde ich erst mal keine Geldsorgen haben. Die habe ich zurzeit noch nicht, da ich gut abgefunden wurde. Aber ewig wird das auch nicht langen. Ich muss schnell etwas Neues finden. Und damit mein ich keine neue Freundin. Ein neuer Job muss her. Allein des Selbstbewusstseins wegen. Und nicht primär des Geldes – zumindest nicht jetzt sofort. Aber mich versteht ja keiner. Wieso sollte auch? Alle leben ihr Leben in der gewohnten Geschwindigkeit weiter. Nur ich nicht. Ich komme nicht hinter-her. Alles zieht sich so. Wäre ein kompletter Neuanfang vielleicht am besten? Ein Umstieg vom Flitzer zum Drahtesel? Zum bescheideneren Leben? Ich weiß es nicht. Zurzeit weiß ich kaum was. Nur, dass sich das Verhältnis im Leben wieder ändern muss. Auch wenn ich dazu neue Wege gehen muss und durch die Umstrukturierung des Lebens die Belegschaft vielleicht ausgetauscht werden muss. Ich will es nicht, aber vielleicht habe ich keine andere Wahl? Wer weiß.

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