Gewissen
Ich hatte gerade ein Streitgespräch. Es war heute nicht das erste. In letzter Zeit streiten wir oft – zu oft, meiner Meinung nach. Ich kann diese Stimme nicht mehr hören, wenn sie dumpf ihre Fragen und Vorstellungen in meinen Kopf ablädt. Mein Kopf ist kein Brutkasten für fremde Zweifel.
Soll sie doch verschwinden. Sie wollte doch sowieso zurück in den Norden. Hier war es ihr immer zu heiß. Wohlgefühlt hat sie sich nie, seitdem wir letzten Herbst umgezogen sind. Nichts passt ihr.
Alles, was wir vorher geplant haben, missfällt ihr mittlerweile. Das eine ist zu langweilig, für das andere haben wir kein Geld. Paris für ein Wochenende? Unnötig, wir sollten sparen. Für schlechtere Zeiten. Die könnten schneller kommen, als man denkt, sagt sie dann. Man sollte doch nur an Denis denken, der letztes Jahr plötzlich seinen Job verlor. Das könnte uns auch passieren.
Was wäre dann?
Ja, was wäre dann?
Wir sollten, wir sollten, wir sollten. Immer nur sollten. Immer nur ihre Vernunft, ihre Sorgen, ihr Plan. Eigentlich ist alles, was ich vorhabe, im Grunde falsch. Nur ihre Meinung zählt.
Eine Meinung, die sich in mir einnistet.
Eine Stimme, die sich in meinem Kopf breitmacht.
Ein Gewissen, das sich über mich erhebt.
Ein Spielverderber, der mich von oben herab mustert und mich dann maßregelt.
Wir haben uns entfremdet. Komplett. All die Augenblicke, in denen wir noch mit einer Stimme gesprochen haben, sind längst vergangen. Unsere Liebe ist nur noch Qualm, der sich aus einer ausgebrannten Zuneigung windet.
Warum verlässt sie mich dann nicht? Vielleicht wäre es für uns beide besser. Jeder könnte sein Ding durchziehen. Das Wir zerbröckeln lassen, bis nur noch zwei Ichs übrig sind. Doch das will sie nicht. Das könne sie nicht.
Wir seien unzertrennlich.
Vielleicht hat sie Recht.
31. Mai 2015