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Postkarte

Es war einer jener gewöhnlichen Tage, genauer gesagt ein Sommertag. Draußen breitete sich die Wärme aus, und die Mittagssonne durchdrang durch die Jalousie, die den ansonsten eher kühlen Raum erhellte. Noch zwei Adressen galt es zu stempeln, dann wäre er mit der diesjährigen Urlaubspost fertig. Eine Postkarte für seine Eltern und eine für seinen besten Freund standen noch aus. Die Karten für seine Schwester und seine Tante lagen bereits frankiert auf seinem Schreibtisch. Eifrig durchforstete er seinen umfangreichen Fundus an Karten und Poststempeln auf der Suche nach dem passenden Motiv. Mallorca? Zu gewöhnlich. Kuala Lumpur? Zu extravagant. Die besten Motive hatte er bereits für die anderen 10 Karten verbraucht. Was sollte er nur tun? Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Sein jährlicher Schwindel – sollte er dieses Jahr auffliegen?

Seit seiner Arbeitslosigkeit im Jahr 1998 versandte er jährlich diese Karten. Besonders seine Eltern würden stutzig werden, wenn sie dieses Jahr keine Karte erhielten. Seine Mutter schätzte die regelmäßigen Karten sehr und nannte ihn enthusiastisch einen echten Globetrotter, wenn jemand nach ihm fragte. Sollte er das alles aufs Spiel setzen? Um welchen Preis? In seinem Inneren sah er das strafende, aber auch traurig blickende Gesicht seiner Mutter. Warum hatte er zuerst die Karte seiner Schwester geschrieben? Ihr würde eine fehlende Karte kaum etwas ausmachen. Sie hatte kürzlich sogar darüber sinniert, dass Postkarten aus der Mode gekommen seien und MMS-Nachrichten mittlerweile ihren Platz eingenommen hätten. „Postkarten sind etwas für alte verbissene Spießer“, hatte sie gesagt. Das könnte die Lösung sein, überlegte er und radelte vorsichtig die Anrede und Adresse von ihrer Karte weg. Ihr könnte er stattdessen eine MMS schicken. Hauptsache, seine Mutter würde rasch bedient. Andernfalls würde er als Versager dastehen.

Magdalene von Rietzenthun schrieb er nun deutlich über die eben entfernte Adresse. Doch das Ergebnis gefiel ihm nicht. Zu offensichtlich war der falsche Adressat. Nicht, dass der Name seiner Schwester durchschimmerte, sondern vielmehr störte ihn, dass er über seine neuen Frauenbekanntschaften schrieb. Seine Mutter erwartete schließlich Berichte über die renommiertesten Kulturdenkmäler der Welt, nicht über Frauen. Er befand sich in einer Zwickmühle. Was sollte er tun? Er durchsuchte erneut seine Schublade, diesmal nicht nach Postzubehör, sondern nach seiner Polaroid-Kamera. Er knipste ein Foto von sich, gelangweilt im Stuhl sitzend. Druckte es aus, stempelte es und versah es schließlich mit ihrer Adresse. Diesen Vorgang wiederholte er analog für die anderen Karten, bevor er den Stapel mit zum Briefkasten nahm und die Karten in den Schlitz warf. Eine Stunde später wurde der Briefkasten geleert – wie an jedem gewöhnlichen Tag. Es war ein Sommertag.

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