Textspur

Rote Fahrt #1

Carolin zückte ihr Handy erst aus ihrer Tasche, nachdem es fünfmal vibriert hatte. Was wollte er denn jetzt schon wieder von ihr? Hat er ihre Warnung, sie in Ruhe zu lassen, nicht verstanden? Sprach sie Chinesisch? Sie hatte sich vor-gestern von ihm getrennt und wollte Ruhe. Als sie keine Ruhe wollte, war er nicht da. Hat sich nicht gemeldet. Und jetzt auf einmal terrorisiert er sie mit Kurznachrichten? Mit Anrufen? Das ging nicht in ihren Kopf. Sie verstand die Welt nicht mehr und steckte ihr Handy genervt wieder zurück ohne genau eine Kenntnis zu nehmen, was er ihr geschrieben hatte. Andere Dinge hatten eine höhere Priorität. Wie sie die demnächst anstehende Klausur in Mathe schaffen sollte, für die sie aufgrund der Trennung und des Kummers nicht gelernte hatte. Wie sie ihr Studium packen sollte. Carolin ballte ihre linke Hand zur Faust und schaute vorbei an den rauschenden Häusern nach draußen. Ihr Blick war leer und ratlos. Sie träumte. Die Fassaden klappten wie bei einem Spielzeughaus um und die Häuser offenbarten ihr ihr Innenleben. In einer weiß gesprenkelten, kürzlich renovierten Häuserzeile sah sie einen Clown wilde Grimassen ziehen und Kinder dabei klatschen. Hier wäre sie auch gerne. Hier könnte sie alles vergessen. Hier könnte sie noch einmal Kind sein. Sie vermisste die Unbeschwertheit ihrer Kindheit. Die Zeit, als jeder Tag mit einem Lächeln begann und mit einem endete. Die Zeit, als alles schön war. Sie seufzte. Ehedem sich ihre Gedanken in ihrer Vergangenheit verfangen konnten, war der Zug schon an den Häusern vorbeigezogen und die Häusern sind einem Meer an Gleisen gewichen, welches den Zug zu beiden Seiten flutete. Gleich hatte sie den Düsseldorfer Hauptbahnhof erreicht. Ihre Endstation. Der Blick wich wieder vom Fenster zu ihrer Tasche, die es sich rechts neben ihr auf dem freien Platz bequem gemacht hatte. Die Tasche, die andauernd vibrierte. Sie murrte, dann öffnete sie ihre Ta-sche und kramte nach ihrem Handy. „Bitte komm zurück zu mir“ leuchtete dort in grellen Lettern. Darunter sah sie drei Anrufe in Abwesenheit und eine Mittei-lung von Spiegel Online. Der Papst war zurückgetreten. Ganz unerwartet. Sie zuckte mit den Schultern, dann stand sie auf und schlenderte den Gang hinab zu den Türen. Kurz bevor sie die Treppe erreicht hatte, rempelte sie ein großer schlaksiger Mann mit einer Halbglatze an. Carolin kam ins Wanken und konnte sich nur mit Mühen an der Stange festhalten, als der Zug eine scharfe Bremsung einlegte. „Können Sie nicht aufpassen?! Haben Sie keine Augen im Kopf? Idiot!“ fauchte Carolin ihn scharf an. Doch ihr Ärger ging unter, eh sie ihn ausgespro-chen hatte, als die Lautsprecher ansprangen und der gesamte Zug zu tuscheln begann. „Die Einfahrt in den Bahnhof wird sich noch ein wenig verzögern. Wir bitten um ihr Verständnis.“ Carolin hatte kein Verständnis, da sie um 12 nach den Zug nach Wuppertal auf Gleis 7 erreichen musste und sie vorher noch eine Kleinigkeit essen wollte, bevor sie ihre Reise fortsetzte. Wenn sie Pech hatte musste sie auf beides verzichten. Im selben Moment vibrierte ihre Tasche erneut. Carolin fauchte. Ihr Magen zog sich zusammen und drückte die Wut aus ihrem Bauch durch ihren Mund nach draußen. „Wann geht es hier denn endlich weiter? Ich habe keine Zeit verdammt. Alles Idioten. Alles Idioten.“ Das gesamte Abteil drehte sich erschrocken zu ihr. Alle Blicke ruhten auf Carolin. Einige nickten ihr zu, andere straften sie irritiert. Carolin war die ungewollte Aufmerksamkeit sichtlich peinlich. Ihr Fauchen wich einem leisen Fiepen, welches mit dem der Reifen zu einem Kanon verklang. Der Zug fuhr langsam weiter und erreichte mit wenigen Minuten Verspätung den Düsseldorfer Hauptbahnhof.

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